Leukämieforschung: Wichtige genetische Schaltstelle für die frühe Blutbildung entschlüsselt
Blutbildende Stammzellen sind der Ursprung aller verschiedenen Blutkörperchen. Wie und wo entscheidet sich aber, zu welcher Art von Blutzelle sich eine Stammzelle entwickelt? Ein Forscherteam unter Leitung von Wissenschaftlern am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Dresden und Heidelberg ist der Antwort auf diese Frage nun einen Schritt nähergekommen: Die Forscher konnten erstmals zeigen, dass eine bestimmte Schaltstelle namens EVL/MIR342 im Erbgut der Stammzellen eine wichtige Rolle für deren weitere Entwicklung in eine der beiden Blutzelllinien spielt. Sie fanden zudem Hinweise darauf, dass die besonders aktive Erbgut-Region an der Herausbildung verschiedener Formen von Blutkrebs beteiligt sein könnte. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden im Fachmagazin „Leukemia“ veröffentlicht.
Ausgangspunkt aller Blutzellen sind sogenannte Stammzellen im Knochenmark. Langzeit-Stammzellen können sich auch nach Jahren noch selbst erneuern, teilen und in verschiedene Blutzellen ausdifferenzieren. Diese hoch komplexe Fähigkeit setzt eine exakte Regulierung aller Gene im Erbgut der Zelle voraus. Für diese Steuerfunktion verantwortlich sind genetische Schaltstellen – besonders aktive, regulatorische Regionen im Erbgut, an denen genetische Informationen verstärkt abgelesen werden. Ein Forscherteam konnte nun erstmals die Funktion der Schaltstelle EVL/MIR342 entschlüsseln. Der Erbgut-Abschnitt enthält den genetischen Bauplan für ein Protein namens EVL sowie für ein kurzes RNA-Molekül – die Mikro-RNA Nummer 342. Die Wissenschaftler zeigten, dass das Zusammenspiel dieser beiden Genprodukte einen maßgeblichen Einfluss darauf hat, in welche der beiden Blutzelllinien – myeloische oder lymphatische Zellen – sich die Stammzelle weiterentwickelt.
„Der nun beschriebene Mechanismus ist ein wichtiger Baustein, um die frühe Blutbildung sowie die Ursachen von Blutkrebs auf genetischer Ebene besser zu verstehen“, sagt Prof. Hanno Glimm, einer der geschäftsführenden Direktoren am NCT/UCC Dresden, der neben seiner dortigen Abteilung auch eine Forschungsgruppe am DKFZ in Heidelberg leitet. Konkret konnten die Forscher in Laborexperimenten, etwa anhand verschiedener molekularer Analysen von Blutstammzellen, zeigen, dass eine erhöhte Bildung des Proteins EVL zu einer vermehrten Differenzierung der Stammzellen in lymphatische Zellen führt. Die Mikro-RNA 342 wirkt in diesem Prozess durch die Beeinflussung wichtiger Signalwege als Gegenspieler: Eine erhöhte Bildung des kurzen RNA-Moleküls verstärkt die Entwicklung der Stammzellen in myeloische Zellen. Unter normalen physiologischen Umständen befördert das fein austarierte Zusammenspiel der Genprodukte hingegen die ausgewogene, an den jeweiligen Bedarf angepasste Bildung myeloischer und lymphatischer Zellen.
Basierend auf diesem Ergebnis analysierten die Wissenschaftler einen genetischen Datensatz von 2.096 Leukämiepatienten. Dabei zeigte sich, dass bei Patienten mit Lymphatischer Leukämie die Bildung des EVL-Proteins besonders hoch war, während bei Patienten mit Akuter myeloischer Leukämie vermehrt Mikro-RNA 342 gebildet wurde. Innerhalb der beiden Leukämie-Arten war dieser Effekt bei Patienten mit bestimmten Mutationen besonders deutlich. „Dies deutet darauf hin, dass die genetische Region bei der Entstehung verschiedener Leukämie-Formen eine Rolle spielt. Diesen Zusammenhang werden wir in weiteren Experimenten genauer untersuchen“, so Prof. Glimm.
Das aktuelle Forschungsergebnis basiert auf einer früheren Untersuchung der NCT-Wissenschaftler, in der es ihnen gelungen war, eine genetische Landkarte der für die Steuerung der Blutstammzellen wichtigen Schaltstellen zu entwerfen. Über 3.000 dieser regulatorischen Erbgut-Regionen sind hier verzeichnet, ihre genaue Funktion gilt es in vielen Fällen noch zu entschlüsseln.
Die Erbgut-Region EVL/MIR342 fiel bereits bei der Erstellung der Karte durch ihre besondere Aktivität auf. Zudem handelt es sich um einen für die Wissenschaftler besonders interessanten DNA-Abschnitt, der sowohl Informationen für ein Protein wie auch für eine Mikro-RNA enthält. „Die Wechselwirkung solcher in einem gemeinsamen Erbgutabschnitt kodierten verschiedenen Genprodukte ist bislang kaum erforscht. In unserem Fall konnten wir zeigen, dass gerade das Zusammenspiel von Protein und Mikro-RNA eine wichtige regulative Funktion für das weitere Schicksal der Zelle ausübt. Dies ist auch für andere Forschungsprojekte ein wichtiger Fingerzeig, dass es essentiell ist, nicht nur die Funktion einzelner Genprodukte, sondern gerade auch ihr Zusammenspiel zu erforschen“, erklärt Erstautorin Dr. Friederike Herbst.