Wenn wir uns bewegen, ist unser Körper oft Kräften wie Quetschungen und Dehnungen ausgesetzt. Dies gilt auch für die zelluläre Ebene. Die Mechanobiologie untersucht, wie Zellen mechanische Kräfte wahrnehmen und darauf reagieren können. Die molekularen Mechanismen aufzuklären, die es den Zellen ermöglichen, Kräfte zu spüren, ist eine große Herausforderung. Bislang konzentrierte sich die Forschung vor allem auf Strukturen innerhalb der Zellen, wie das Zytoskelett und Zelladhäsionen.
HITS-Gruppenleiterin Frauke Gräter hat die mechanobiologischen Eigenschaften des Proteins Kollagen mit In-Silico- und In-Vitro-Methoden gründlich untersucht. Zusammen mit ihren Kollegen Ronen Zaidel-Bar (Tel Aviv University, Israel) und Alexander Dunn (Stanford University, USA) will sie nun den Raum zwischen den Zellen, der oft mit Kollagen gefüllt ist, erforschen und dessen Signalübertragung in die Zelle aufdecken. Ihr Projektantrag beim Human Frontier Science Program (HFSP) war erfolgreich: Die Forschenden erhielten einen HFSP Research Grant Award 2024 in Höhe von 1,5 Millionen US-Dollar für drei Jahre. Das Projekt startet am 1. Juli 2024.
Auf der Suche nach Mechanoradikalen: Würmer und Mäuse im Vergleich
„Die neue Idee dabei ist, dass Proteine auch außerhalb der Zelle durch Kraft beeinflusst werden können und diffusionsfähige chemische Signale erzeugen, die nahe gelegene Zellen erreichen und deren Funktion beeinflussen können“, erklärt Frauke Gräter. In ihren jüngsten Beobachtungen stellten die Forschenden fest, dass die Dehnung des extrazellulären Kollagen-Proteins unter kontrollierten Laborbedingungen zum Aufbrechen chemischer Bindungen führt, die freie Radikale freisetzen. „Unser Ziel ist es, nachzuweisen, dass dieser Prozess auch in lebendem Gewebe unter normalen physiologischen Kräften stattfindet, und die Auswirkungen der freien Radikale auf die Gesundheit des Gewebes und des gesamten Organismus zu untersuchen“, ergänzt der Molekularbiologe Alexander Dunn (Stanford University), ein Experte in der künstlichen Herstellung von Gewebe (Tissue Engineering).
Zu diesem Zweck stützt sich das internationale Team auf zwei Modellsysteme: Sehnen aus der Maus und den Wurm Caenorhabditis elegans. Sehnen sind stark kollagenhaltiges Gewebe, das Muskeln und Knochen miteinander verbindet und mehrere Tage lang außerhalb des Tieres gezüchtet werden kann. C. elegans ist ein leistungsfähiges genetisches Modellsystem. Sein Exoskelett besteht fast vollständig aus Kollagen. „Aber das Kollagen von C. elegans hat eine andere, noch unbekannte Struktur“, sagt Ronen Zaidel-Bar (Tel Aviv University), Zell- und Entwicklungsbiologe und Experte für C. elegans.
Die Forschenden werden dabei eine Kombination modernster Techniken einsetzen und versuchen, die Auswirkungen der Mechanoradikale auf die Integrität des Gewebes und das Wohlergehen des Organismus zu messen, einschließlich seiner Fruchtbarkeit, Stressresistenz und Lebensspanne. „Letztendlich werden wir Mechanoradikale als eine bisher unerkannte molekulare Spezies im Leben aufdecken, die mechanische Spannungen in physiologische Reaktionen umwandelt, was Auswirkungen auf Gesundheit, Krankheit und Alterung hat“, fasst Frauke Gräter zusammen.