Mit KI Entwicklungsstörungen frühzeitig erkennen: Bewegungsmuster bei Säuglingen automatisch klassifiziert
Mit einer neuen Kombination aus drei Sensoren und Künstlicher Intelligenz erkennen Forschende der Medizinischen Fakultät Heidelberg der Universität Heidelberg und des Universitätsklinikums Heidelberg Muster in den Bewegungen von Babys, die zeigen, ob das Nervensystem sich gesund entwickelt.
Die Art, wie ein Säugling sich in den ersten Lebensmonaten spontan bewegt, kann Hinweise darauf geben, ob sein Nervensystem eine Störung aufweist, und vorhersagen, ob das Baby später etwa eine Zerebralparese entwickelt. Das haben Forschungen der letzten Jahrzehnte ergeben. Bislang wurden diese altersspezifischen spontanen Bewegungsmuster – Forscher sprechen von ‚General Movements‘ – mittels Videodaten klinisch analysiert. Prof. Dr. Dr. Peter Marschik von der Medizinischen Fakultät Heidelberg der Universität Heidelberg hat mit seinem Team nun erstmals eine Kombinationsmethode vorgestellt, mit der sie die frühkindlichen Bewegungen automatisch klassifizieren können. Marschik leitet die Forschungseinheit Systemische Ethologie und Entwicklungswissenschaft an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg (UKHD). In seiner Studie mit Babys im Alter ab vier Wochen nach dem errechneten Geburtstermin konnten er und seine Mitarbeiterinnen zeigen, dass mit dem „Sensor Fusion Modell“ neurologisch bedingte Bewegungsstörungen automatisch frühzeitig entdeckt werden können, was die Diagnostik künftig unterstützen soll. Ebenso könnte die automatische Entdeckung abweichender Bewegungsmuster bei Babys dazu beitragen, die frühe Entwicklung des Nervensystems besser zu verstehen.
Früh erkannte neurologische Störungen besser behandeln
Die frühe Entdeckung neurologischer Störungen kann entscheidend für das weitere Leben der Kinder sein. Denn nach der Geburt entwickelt sich das Nervensystem stark weiter, äußere Einwirkungen können dies fördern oder beeinträchtigen. Studien der letzten Jahre zeigen, dass bei Zerebralparese, bei der die Kinder in weiterer Folge u. a. Bewegungsauffälligkeiten und eine Spastik (Muskelsteife) zeigen, frühe Interventionen wie Physiotherapie spätere Symptome mildern können. Eine Zerebralparese trifft weltweit bei 1.000 Geburten ein bis vier Neugeborene. Um sie früh zu erkennen, wird das „General Movement Assessment (GMA)“ als eine Methode eingesetzt. Dabei analysieren Ärztinnen und Ärzte die Bewegungen des Kindes. Im Idealfall wird das GMA klinisch mit weiteren neurologischen Erhebungen und dem bildgebenden Verfahren MRT kombiniert. Da diese Methoden nicht überall gleichermaßen zugänglich sind, suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit danach, automatisierte Analysen unter Einbeziehung künstlicher Intelligenz für das GMA als Screeningtool einzuführen.
SEE - Sensor Fusion Modell erkennt Bewegungsauffälligkeiten präzise
In der aktuellen Studie untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über 50 Kinder in zweiwöchigen und später wöchentlichen Intervallen. Peter Marschik und sein Team kombinierten dabei in ihrem Sensor Fusion Modell die visuelle Sensorik mit der Messung der Druckverteilung mittels hochsensibler Druckmatten und der Inertialsensorik, mit der die räumliche Bewegung gemessen wird. Die gemeinsame Auswertung aller drei Datenquellen mithilfe Künstlicher Intelligenz ergab eine signifikant höhere Genauigkeit in der Klassifizierung der kindlichen Bewegungsstörungen im Vergleich zum allein videobasierten Sensor. „Das Sensor Fusion Modell unterscheidet zuverlässig zwischen typischen und abweichenden Bewegungsmustern und kann uns dadurch zeigen, ob es dem Nervensystem der Kinder gut geht und es sich altersadäquat entwickelt,“ resümiert Peter Marschik. Das Modell könne daher zu einer früheren Diagnose bei Entwicklungsstörungen beitragen. Im Bereich der Grundlagenforschung könne die automatische Klassifizierung von frühen Bewegungsmustern aber auch helfen, die Entstehung von Neuroentwicklungsstörungen, wie etwa Autismus-Spektrum-Störungen, besser zu verstehen.
Die Forschungsarbeit von Peter Marschiks Team ist interdisziplinär angelegt und erfolgt in Zusammenarbeit mit Universitäten und medizinischen Einrichtungen in Göttingen, Graz, Berlin, Los Angeles und Stockholm.