Diabetes mellitus ist eine Volkskrankheit. Mehr als sieben Prozent der Erwachsenen in Deutschland leiden unter dieser chronischen Stoffwechselerkrankung, und zunehmend sind auch Kinder davon betroffen. Die Krankheit geht einher mit einem zu hohen Blutzuckerspiegel, der langfristig mit gravierenden Folgeerkrankungen verbunden ist. Ursachen, Krankheitszeichen und -verläufe unterscheiden sich je nach Diabetes-Typ. Neben den klassischen Diabetesformen, bekannt als Typ 1 und Typ 2 Diabetes, existieren auch seltenere Formen, bei denen die Erkrankung monogenetisch ist, also durch einen einzigen Gendefekt ausgelöst wird.
Ein internationales Forschungsteam konnte nun in einer „Nature Medicine“-Studie zeigen, dass Mutationen im Gen ONECUT1 eine Schlüsselrolle bei der Entstehung bestimmter Diabetes-Formen spielen. Nicht nur bei Patientengruppen mit monogenetischem Diabetes fanden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Gendefekte in ONECUT1. Sie konnten darüber hinaus auch nachweisen, dass Varianten dieses Gens bei speziellen Formen von Typ 2 Diabetes eine wichtige Rolle spielen, die sich im frühen Erwachsenenalter zeigen.
Die Entdeckung ist von hoher klinischer Relevanz
„Mit unserer Studie konnten wir ein bisher unbekanntes humanes Diabetes-Gen identifizieren“, erklärt Heisenberg-Professor Alexander Kleger, Leiter der Pankreas-Arbeitsgruppe an der Klinik für Innere Medizin I des Universitätsklinikums Ulm. „Diese Entdeckung ist von hoher klinischer Relevanz, weil sie uns dabei helfen kann, Diabetes-Erkrankungen personalisiert zu behandeln und dabei den genetischen Besonderheiten des Einzelnen Rechnung zu tragen “, ergänzt der Mediziner. Kleger hat zusammen mit Dr. Cécile Julier, Humangenetikerin am renommierten Cochin Institut in Paris, die Studie geleitet. Den Forscherinnen und Forschern ist es nicht nur gelungen, diesen speziellen genetischen Defekt bei Menschen mit Diabetes-Erkrankungen nachzuweisen, sie konnten darüber hinaus auch den Mechanismus näher beleuchten, wie die ONECUT1-Varianten die Funktion der insulin-produzierenden Beta-Zellen beeinträchtigen. Das Gen ONECUT1 spielt nämlich eine wesentliche Rolle in der Pankreasentwicklung. Mutationen in diesem wichtigen Gen stören diesen komplexen Prozess an verschiedenen Stellen.
Um die molekular-genetischen Netzwerke der Pankreasentwicklung besser verstehen zu können, wurden humane pluripotente Stammzellen mit deaktiviertem ONECUT1-Gen zu Pankreaszellen differenziert. Außerdem wurden Hautzellen von Patienten zu Stammzellen re-programmiert, die danach wiederum zu Pankreaszellen entwickelt wurden. Das Ergebnis dieser aufwändigen Laboruntersuchungen zeigte, dass die Bildung von Vorläuferzellen der Bauchspeicheldrüse durch die neu entdeckten ONECUT1-Genvarianten entscheidend beeinträchtigt war und zudem die Insulin-produzierenden Beta-Zellen des Pankreas in ihrer Funktion der Blutzuckerregulation nachhaltig gestört waren.
Das Forschungsteam konnte zudem die molekular-genetischen Mechanismen entschlüsseln, die diese Funktionsstörung auslösen. „Es zeigte sich unter anderem, dass Mutationen im ONECUT1-Gen andere Transkriptionsfaktoren bei der Bindung an die DNA behindert haben und somit Pankreas-spezifische Genexpressionsregulatoren in ihrer Aktivität reduziert waren“, betont die Ulmer Wissenschaftlerin Dr. Sandra Heller, die zusammen mit dem Bioinformatiker Professor Ivan Costa vom Uniklinikum Aachen zu den vier Erstautoren der „Nature Medicine“-Veröffentlichung gehört.
Das Ergebnis ist ein Meilenstein zur personalisierten Diabetes-Therapie
„Das Ergebnis dieser gemeinsamen Studie ist ein Meilenstein. Sie zeigt, wie die Zusammenarbeit aus klinischer Medizin, Humangenetik und patientennaher Grundlagenforschung helfen kann, eine komplexe Stoffwechselerkrankung besser zu verstehen. Vermeintliche Fälle von klassischem Typ 2 Diabetes beispielsweise entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als Fälle von monogenetischem Diabetes. Dies ist nicht zuletzt für die Steuerung der Therapie der Betroffenen bedeutsam“, so die Forschenden.
Beteiligt an dem internationalen und interdisziplinären Gemeinschaftsprojekt waren Forschende aus Deutschland, Frankreich und den USA, aus dem Libanon, den Vereinten Arabischen Emiraten sowie Österreich und Singapur. Professor Alexander Kleger leitete den funktionellen, Dr. Cécile Julier den genetischen Teil der Studie. Für die Studie wurde eine französische Indexfamilie von Professor Marc Nicolino charakterisiert. Eine baden-württembergische Patientenkohorte mit einem früh-manifestierten Typ 2 Diabetes wurde von Professor Bernhard Böhm rekrutiert. Die wissenschaftliche Arbeit wurde maßgeblich durch ein Kollaborationsprojekt des französischen Agence Nationale de la Recherche (ANR) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt, sowie durch das Boehringer Ingelheim Ulm University BioCenter „BIU 2.0“.