Medizinische Wirkstoffe möglichst nahe am Ort der Erkrankung platzieren: Was theoretisch völlig einleuchtend klingt, ist leider in der Praxis gar nicht so einfach. Dies funktioniert zwar bei vielen Arzneimitteln über die Blutbahn oder den Verdauungstrakt gut, gilt aber nicht für das Gehirn. Hier sorgen spezielle Schutzmechanismen wie die Blut-Hirn-Schranke dafür, dass Fremdstoffe und somit auch Therapeutika dieses nur sehr schwer und in deutlich reduziertem Ausmaß erreichen können. Dabei ist es jedoch bei Pathomechanismen innerhalb des Zentralnervensystems (ZNS, Gehirn und Rückenmark) entscheidend, dass die Arzneimittel möglichst effizient dort ankommen. Ein Beispiel hierfür ist die Behandlung der Multiplen Sklerose, die neurologische Beeinträchtigungen bereits in jungen Alter mit hohen sozioökonomischen Auswirkungen verursacht.
Schonende Verabreichungsform für Biopharmazeutika durch die Nase
Aus diesem Grund wurde im Januar 2017 das EU-geförderte Verbundprojekt »N2B-patch« ins Leben gerufen, in dem es sich ein internationales Konsortium aus elf Partnern unter Koordination des Fraunhofer IGB zur Aufgabe gemacht hatte, eine effizientere, alternative Möglichkeit zur Therapie der Multiplen Sklerose zu erforschen. Auch mit der Erwartung, dass anderer Erkrankungen des ZNS von dieser Plattformtechnologie profitieren können.
Mit Erfolg: Das internationale Konsortium hat die Machbarkeit eines nasalen Verabreichungssystems für Biopharmazeutika über die Riechschleimhaut, die Regio olfactoria gezeigt. Im Gegensatz zu einer Behandlung per Nasenspray, das über das respiratorische Epithel wirkt, oder einer intravenösen Injektion direkt in die Blutbahn, könnte dieser innovative »Nose-to-Brain«-Ansatz einem Wirkstoff ermöglichen, den Weg über das Blut zu umgehen und direkt ins Gehirn zu gelangen. Denn dieses ist nur durch das gelochte Siebbein und wenige zusätzliche Zellschichten von der Nasenhöhle getrennt, sodass die Arzneimittel diese Barriere einfach durchdringen und das ZNS auf kurzer Distanz direkt erreichen können. Nun endet das Projekt nach 4,5 Jahren Laufzeit.
»Während unseres Projekts gab es großartige Erfolge zu vermelden, aber auch einige Herausforderungen zu meistern«, berichtet Dr. Carmen Gruber-Traub, Projektleiterin von N2B-patch am IGB. »Nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie, die schließlich sogar eine Projektverlängerung um sechs Monate notwendig machte. Aber die Partner haben alle mit großem Engagement gearbeitet, um den Arbeitsplan zu erfüllen und die Projektziele zu erreichen. Dabei sind wir im Konsortium eng zusammengewachsen, und es haben sich langfristige Partnerschaften ergeben, die mit Sicherheit lange über dieses Projekt hinaus anhalten werden – keine Selbstverständlichkeit.«
Zukünftige Plattformtechnologie für verschiedenste Indikationen
Das neuartige Verabreichungssystem ist so erfolgversprechend, dass es in Kürze zum Patent angemeldet werden soll. Für die Formulierung selbst konnte unter anderem gezeigt werden, dass diese stabil ist und so sogar über Tage und Wochen bei Raumtemperatur lagerfähig ist.
Da das neuartige System flexibel gestaltet ist, könnte das Verfahren zukünftig auch als potentielle Plattformtechnologie für andere Erkrankungen des ZNS eingesetzt werden – etwa zur Therapie von Schlaganfällen und Alzheimer – oder auch spezifischen Krebserkrankungen.
Präklinische Studien überzeugen
»Das in Zusammenarbeit mit der Beiter GmbH & Co. KG entwickelte und mittels in-vivo-Modellen getestete System ist in der Anwendung so schonend, dass das Riechen in keinster Weise beeinträchtigt wird und auch keine Krankheitskeime in die Nase gelangen können. Zudem wurden generell keine Auswirkungen auf das nasale Mikrobiom beobachtet. Präklinische und Mikrobiom-Studien haben dies gezeigt«, so Gruber-Traub. Mit dem neuen System könnte es möglich sein, den Wirkstoff in einen Zeitraum von bis zu zwei Wochen kontinuierlich und zuverlässig an das Gehirn zu verabreichen. Danach muss erneut eine Anwendung erfolgen.
Diese Tatsache wird aber von Patientinnen und Patienten nicht als belastend empfunden, wie Umfragen des Konsortiums ergaben. Da das System für den Patienten gut verträglich ist, ist eine wiederholte Anwendung möglich, und es könnte somit auch zur Langzeitbehandlung oder sogar für eine lebenslange Behandlung geeignet sein. Das System kann nicht selbst, sondern muss durch eine Ärztin oder einen Arzt, bzw. von geschultem Personal angewendet werden, das über entsprechendes Geschick und Erfahrung verfügt. Das Projekt wurde über die gesamte Dauer durch die Europäische Multiple Sklerose Plattform EMSP als Partner eng begleitet und damit Betroffene durch Veranstaltungen, Kampagnen oder Interviews regelmäßig einbezogen.
Ende mit Symposium, doch die Forschung geht weiter
Von der Zulassung der neuen Plattformtechnologie ist man zwar noch einige Zeit entfernt, trotzdem sei alles entsprechend vorbereitet: »An der Vermarktung wird jetzt schon gearbeitet, an der Produktion nach GMP-Richtlinien sowieso, und selbstverständlich werden die Patentanmeldungen vorangetrieben«, so Gruber-Traub. »Außerdem gehen die grundlegenden Forschungsarbeiten auch über dieses konkrete Projekt hinaus noch weiter, im Rahmen des Marie-Sklodowska-Curie-Netzwerks Bio2Brain für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus aller Welt.«
Am 17. Juni 2021 nimmt das Projekt mit einem virtuellen Abschlusssymposium (10 Uhr bis 15.30 Uhr) sein offizielles Ende. Ausdrücklich eingeladen sind nicht nur Experten aus Wissenschaft und Industrie, sondern auch Patientinnen und Patienten sowie die interessierte Öffentlichkeit. Während des Symposiums werden verschiedene wissenschaftliche Publikationen und Kurzfilme über das neuartige Verfahren zur Arzneimittelverabreichung, die in den letzten Jahren entstanden sind, vorgestellt. Das Programm findet sich auf der Website des Projekts unter www.n2b-patch.eu/symposium. Über den dort hinterlegten Link können sich Interessenten zum kostenlosen Symposium registrieren.