Damit aus einer befruchteten Eizelle ein komplexer, mehrzelliger Organismus entstehen kann, ist der Ablauf der Embryonalentwicklung biologisch genauestens reguliert. Hierbei spielen eine Reihe von Signalwegen eine entscheidende Rolle. Werden die Signalwege in ihrer Aktivität gestört oder unterbrochen, führt dies zu charakteristischen Entwicklungsschäden beim Embryo.
In der Fachzeitschrift Nature Methods stellen Forschende um Patrick Müller, Professor für Entwicklungsbiologie an der Universität Konstanz, nun ihre freie Software EmbryoNet vor. Die automatisierte Bildanalyse-Software erkennt und klassifiziert Schäden, die während der Embryonalentwicklung von Fischen auftreten. Anhand der Klassifizierung können anschließend Rückschlüsse auf Störungen der für die embryonale Entwicklung wichtigsten Signalwege gezogen werden. In der Anwendung erlauben die hohe Geschwindigkeit und Genauigkeit der Software beispielsweise die Aufklärung der Wirkmechanismen von Arzneimitteln in Hochdurchsatz-Verfahren.
Künstliche Intelligenz als Schlüsselkomponente
Um über die Klassifizierung sichtbarer Entwicklungsschäden die zugrundeliegenden Signalmechanismen zu identifizieren, benötigte man bisher ExpertInnen, die in akribischer Detailarbeit große Mengen an Bildmaterial sichten. Eine zeitfressende Methode, die aufgrund fehlender Standardisierung außerdem anfällig für unterschiedliche, teils subjektive Bewertungen ist.
„Wir verfolgen mit EmbryoNet deshalb einen durch maschinelles Lernen gestützten Ansatz, bei dem ein mit über 2 Millionen Beispielbildern von Zebrafisch-Embryonen trainiertes neuronales Netz die objektive Klassifizierung übernimmt“, berichtet Matvey Safroshkin, gemeinsam mit Hernán Morales-Naverrete einer der Programmierer von EmbryoNet. Dabei berücksichtigt EmbryoNet neben den Bilddaten, die es zu klassifizieren gilt, zusätzlich Informationen zum zeitlichen Ablauf der Embryonalentwicklung bzw. möglicher Entwicklungsstörungen.
Effektiver als der Mensch
Die Leistungsfähigkeit ihrer Software testeten die Forschenden im direkten Vergleich zum Menschen. Die Aufgabe: bisher nicht-klassifizierte Fotos von Zebrafisch-Embryonen verschiedener Entwicklungsstadien möglichen Entwicklungsstörungen zuordnen. Neben erfahrenen ExpertInnen auf dem Gebiet der Entwicklungsbiologie durften sich im Rahmen eines Biologie-Praktikums auch Gruppen von Studierenden mit EmbryoNet in dieser Aufgabe messen.
„Die Daten der Studierenden sind ebenfalls in unsere Studie eingeflossen und ein gutes Beispiel dafür, wie sich aktuelle Forschung und Lehre gegenseitig bereichern können“, so Müller. Die Studienergebnisse zeigen, dass EmbryoNet verschiedene Signalmutanten des Zebrafischs zuverlässig identifizieren konnte. Die Software war dabei um ein Vielfaches schneller und sogar genauer und empfindlicher als ihre menschlichen KontrahentInnen – ExpertInnen eingeschlossen.
Quelloffen und auf andere Arten erweiterbar
Die Forschenden demonstrierten außerdem, dass sich EmbryoNet nicht nur auf Zebrafische – ein beliebtes Modell in der Entwicklungsbiologie –, sondern auch auf andere Wirbeltierarten anwenden lässt. „Wir konnten EmbryoNet mit vergleichsweise wenig Aufwand auf andere Arten umtrainieren, die sich vor hunderten Millionen Jahren evolutiv von den Zebrafischen getrennt haben“, erklärt Daniel Čapek, Entwicklungsbiologe und einer der Studienautoren. Die quelloffene und damit frei nutz- und modifizierbare Software besitzt also das Potenzial, die Charakterisierung von Entwicklungsmutanten über Artgrenzen hinweg zu beschleunigen.