Am Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen ist es gelungen, ein jahrzehntelang verborgenes Gen zu identifizieren, das für eine Reihe von seltenen Erkrankungen des Gehirns und Rückenmarks ursächlich sein könnte. Bei diesen sogenannten Ataxien leiden das Gleichgewicht und die Bewegungskoordination.
Gemeinsam mit dem US-amerikanischen Neurologen Stefan Pulst (University of Utah, Salt Lake City), der das Gen mit seiner Arbeitsgruppe erstmals beschrieben hatte, und dem Lübecker Humangenetiker Malte Spielmann ist es nach 28 Jahren Kartierung im Genom gelungen, ein verlängertes GGC-Repeat Motif im ZFHX3 Gen als Ursache für die Erkrankung SCA4 zu identifizieren. Möglich war dies durch die Tübinger Expertise in der neuen Technologie der Long Read Sequenzierung. Jetzt wurde das Forschungsergebnis im Fachjournal Nature Genetics veröffentlicht.
Erst im März dieses Jahr hat das Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen vom Land Baden-Württemberg im Rahmen des BEGIN Programms 1,1 Millionen Euro eingeworben, um die Erstellung neuer Referenzgenome (Referenzdatenbanken) voranzutreiben. Ziel ist, das gesamte Genom einschließlich der schwer zu analysierenden Regionen, den sogenannten „Dark Regions of the Genome“, zu entschlüsseln. Dafür ist eine völlig neue Technologie erforderlich, die prinzipiell ganze Chromosomen in einem Stück sequenzieren kann. Die Arbeitsgruppe um Prof. Olaf Rieß und Prof. Stephan Ossowski wird hierfür das Erbgut von mindestens zehn Personen deutscher und zehn Personen afrikanischer Herkunft sequenzieren, um auch die große Variabilität der DNA-Sequenzen mit zu berücksichtigen.
In den „Dark Regions of the Genome“ werden weitere Gene vermutet, die ursächlich für genetisch bedingte Erkrankungen sind. Deshalb konzentriert sich das Team des Tübinger Universitätsklinikums auf die Anwendung der neuen Sequenzierungsmöglichkeiten in diesen Gebieten. Im vergangenen Jahr wurde am Tübinger Institut erstmals in Europa die Anwendung im klinischen Diagnostikprozess akkreditiert. Die diagnostische Anwendung der Long Read Technologie wird im größeren Maßstab in der nationalen „Clinical Long-Read Genome Initiative“ (lonGER) systematisch untersucht.
Mit der neuen Technologie kann zudem die DNA-Modifikation (z.B. die Methylierung der DNA) analysiert werden. Dieses sogenannte Epigenom kann sehr variabel bspw. auf Medikamenteneinnahmen, Ernährung und Krankheiten reagieren, was die DNA-Methylierung zu einem Biomarker für die Diagnostik von genetischen Krankheiten und Krebs macht. Es sind zahlreiche Erkrankungen bekannt, die durch epigenetische Veränderungen verursacht werden können. Deshalb werden verstärkt Medikamente entwickelt, die lokale epigenetische Merkmale beeinflussen sollen. Referenzdaten des Epigenoms sind daher extrem wichtig, weshalb im Rahmen der Baden-Württemberg-Förderung 400 eineiige Zwillinge mittels Long-Read Technologie zur Ermittlung der Stabilität des Epigenoms sequenziert werden sollen.