Virale Therapeutika gelten als Hoffnungsträger für die Medizin, um bisher nicht behandelbare Krankheiten, etwa Erbkrankheiten oder Krebs, zu lindern oder gar zu heilen. Viren bestehen aus Erbgut, das in einer Hülle aus Proteinen und Lipiden verpackt ist. Mithilfe biotechnologischer Methoden können sie zu neuen Therapeutika umgebaut werden.
»Die Fähigkeit von Viren, Zellen spezifisch zu erkennen, in sie einzudringen und ihr Erbgut stabil zu verankern, prädestiniert sie als Werkzeug, um zielgerichtet genetische Information zu übertragen«, weiß Professorin Dr. Susanne Bailer, die am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik IGB das Innovationsfeld »Virus-basierte Technologien« und zukünftig auch die neue Außenstelle leitet. Anders als die Vielzahl herkömmlicher Medikamente sind therapeutische Viren äußerst komplexe kleinste Partikel, die biotechnologisch in lebenden Zellen hergestellt werden. Um sie in die klinische Anwendung beim Patienten bringen zu können, müssen zunächst geeignete Virus-Plattformen aufgebaut und neue Verfahren für die präklinische Prüfung und ihre Herstellung im größeren Maßstab entwickelt werden.
Genau das ist Ziel der jüngst bewilligten Außenstelle »Virus-basierte Therapien VBT« des Fraunhofer IGB, das mit Landesmitteln am Standort Biberach in der Region Oberschwaben / Biberach / Ulm aufgebaut werden soll und nun startet. Am 12. Oktober 2023 erhielt das Fraunhofer IGB den Zuwendungsbescheid des Ministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg über rund 25 Millionen Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren.
Bei der Übergabe des Förderbescheids hob Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut, Ministerin für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus, die hohe Bedeutung der Förderung für den Pharmastandort Baden-Württemberg und die Kompetenz des Fraunhofer IGB in diesem Forschungsfeld hervor: »Viele große und namhafte Pharmaunternehmen investieren derzeit massiv auf dem Feld der therapeutischen Viren. Durch die Stärkung der wirtschaftsnahen Forschung auf diesem Gebiet besteht die Chance, Forschung und Produktion in diesem zukunftsträchtigen Bereich in Baden-Württemberg anzusiedeln. Mit seiner Expertise in der Virenforschung ist das Fraunhofer IGB der ideale Partner, um die Unternehmen bei der Weiterentwicklung viraler Therapien zu unterstützen. Davon werden nicht nur die Unternehmen und die Pharmaregion zwischen Ulm und Bodensee profitieren, sondern der gesamte Pharmastandort Baden-Württemberg.«
»Mit dieser Förderung können wir ein kompetentes Team aus Wissenschaftlern und Technikern aufstellen und Investitionen zur gerätetechnischen Erstausstattung finanzieren«, erläutert Dr. Markus Wolperdinger, Institutsleiter am Fraunhofer IGB. Bereits am 20. Juni 2023 hatte der Ministerrat in Stuttgart den Beschluss zum Aufbau der Außenstelle verabschiedet. Am 6. Juli stimmte der Finanzausschuss des Landtags Baden-Württemberg dem Kabinettsbeschluss zu.
Grundlagenforschung, industrielle Anwendung und Translation in die Klinik verzahnen
»Die Außenstelle Virus-basierte Therapien soll innerhalb der kommenden Jahre die Grundlagen schaffen, um die neuen Technologien der viralen Therapeutika im Schulterschluss von Forschung und industrieller Anwendung bis zum Patienten voranzubringen«, so Professor Dr. Steffen Rupp, Koordinator des Geschäftsfelds Gesundheit am Fraunhofer IGB.
Standort der neuen Außenstelle wird die Region um das BioPharma Cluster South Germany, das von Ulm über Laupheim, Biberach und Ravensburg bis zum Bodensee reicht. Weltweit führende Pharma-Unternehmen sind hier ebenso zuhause wie die Universität Ulm und die Hochschule Biberach.
»Aktuell gibt es erste Aktivitäten in Biberach, im nächsten Schritt suchen wir nun nach geeigneten Laborräumen«, verrät Bailer, die die neue Außenstelle leitet. Zusammen mit akademischen und industriellen Akteuren des BioPharma Cluster South Germany werden gerade erste konkrete Projekte identifiziert. Damit sollen die Aktivitäten zu viralen Therapeutika strategisch vorangetrieben und die VBT-Außenstelle in der Region von Anfang an unterstützt werden.
Bailer, die seit mehr als 20 Jahren an Herpesviren forscht, baute am Fraunhofer IGB ein neues Feld der Fraunhofer-weiten Gesundheitsforschung auf. »Gemeinsam ist es uns gelungen, eine Fraunhofer-eigene patentierte Virustechnologie-Plattform zu etablieren, mit der wir Herpesviren für therapeutische Zwecke umprogrammieren können«, so die Forscherin.
Therapeutische Viren gegen Krebs und Erbkrankheiten
Unter Einsatz eben dieser Plattformtechnologie hat das Team bereits ein onkolytisch – gezielt gegen Krebs – wirkendes Virus hergestellt, das nach weiteren Entwicklungsschritten zur Therapie des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms eingesetzt werden kann. »Wir haben hierfür Herpesviren so umprogrammiert, dass sie nur die Zellen des Lungentumors entern können«, erläutert Bailer den Ansatz. Werden die onkolytischen Viren in den Tumor injiziert, dringen sie in die Krebszellen ein, vermehren sich in ihnen und zerstören die Krebszellen. Hierbei werden die onkolytischen Viren freigesetzt, um weitere Tumorzellen zu attackieren. »Dadurch wird im Tumor eine massive Entzündungsreaktion in Gang gesetzt, sodass ›kalte‹, das heißt dem Immunsystem bisher unzugängliche Tumore, in ›heiße‹ verwandelt und so durch das Immunsystem angreifbar werden«, führt die Virus-Expertin aus.
Bei der Zerstörung der Tumorzelle werden nicht nur die onkolytischen Viren, sondern auch tumorspezifische Proteine, sogenannte Tumormarker, freigesetzt. »Das körpereigene Immunsystem, das den Tumor oft nur ungenügend bekämpfen kann, wird dadurch gezielt darauf getrimmt, diese Krebszellen zu zerstören«, erklärt Bailer den als Tumorvakzinierung bekannten Effekt. Doch damit nicht genug. »Diesen Effekt können wir noch verstärken, indem wir den onkolytischen Viren Immunmodulatoren einprogrammieren, welche die Immunreaktion zusätzlich unterstützen«, so Bailer. Derzeit stehen vielversprechende Kombinationstherapien der onkolytischen Viren mit gut charakterisierten Immunstimulatoren, den sogenannten Immun-Checkpoint-Inhibitoren, im Fokus.
Dabei ist Krebs ist nicht die einzige Erkrankung, bei der Virotherapien Chancen eröffnen. Umprogrammierte Viren eignen sich ebenso als spezifisches Werkzeug für die Gentherapie. Diese ist besonders bei erblich bedingten Erkrankungen erfolgversprechend, bei denen ein einzelnes Gen fehlt oder fehlerhaft vorliegt. Durch Einschleusen eines funktionsfähigen therapeutischen Gens kann der Gendefekt oft korrigiert werden. »Virale Vektoren können therapeutische Gene stabil in der Zelle verankern und damit langanhaltende Effekte für den Patienten erzielen«, ist Bailer überzeugt.
Neue Schlüsseltechnologien für Engineering, Produktion und Testung therapeutischer Viren
Damit die komplexen Virustherapeutika regulatorische Hürden bei der Zulassung überwinden und sich auf dem Gesundheitsmarkt auch wirtschaftlich durchsetzen können, muss noch an zahlreichen wissenschaftlichen Grundlagen gefeilt und an technologischen Stellschrauben gedreht werden. »Nur mit neuesten Technologien können wir sichere therapeutische Virusprodukte in ausreichender Menge und gleichbleibender Qualität in Bezug auf Funktionalität, Effektivität und Reinheit bereitstellen«, so Bailer.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der neuen Forschungseinheit haben somit vielfältigen Fragestellungen nachzugehen. So gilt es, vorhandene Virus-Plattformen zu verbessern oder gegebenenfalls neu aufzusetzen und im gleichen Zuge passende Analysen zu entwickeln, um die Virus-Konstrukte in puncto Spezifität, Wirksamkeit, Sicherheit und Stabilität untersuchen und weiter optimieren zu können. Für die Produktion schließlich sind neue und spezifische Zelllinien erforderlich, die sich prozesstechnisch möglichst einfach in üblichen Bioreaktoren kultivieren lassen, ebenso wie Verfahren zur Überwachung der Virusproduktion in Echtzeit und eine datengestützte Prozesssteuerung. »Da therapeutische Viren größer und komplexer sind als herkömmliche Pharmawirkstoffe und sich je nach eingesetztem Virus mitunter stark voneinander unterscheiden, müssen wir zudem Trennverfahren für die Aufreinigung der Virusprodukte neu denken«, verdeutlicht Bailer.
Um die Entwicklung neuer Virustherapeutika bis zur Translation in die Klinik abdecken zu können, ist somit Teamwork verschiedener Disziplinen gefragt. »Im BioPharma Cluster South Germany haben wir bereits exzellente Partner identifiziert, mit denen wir hierzu zusammenarbeiten werden«, so die Leiterin der neuen Außenstelle.