Bitte beachten Sie, dass es sich bei diesem Beitrag um keine Pressemitteilung, sondern um einen Blogpost handelt.
Es steht die Frage im Raum, ob Tierversuche überhaupt noch zeitgemäß und notwendig sind oder ob nicht längst Plattformen und biointelligente Technologien zur Verfügung stehen, mit denen aktuelle Fragen der Forschung und Entwicklung in einem humanrelevanten Zusammenhang beantwortet werden können. Auch wenn trotz der beeindruckenden Entwicklung Tierversuche auch auf absehbare Zeit noch nicht vollständig ersetzt werden können, so könnten Alternativmethoden bis dahin zumindest die Anzahl an notwendigen Tierversuchen drastisch reduzieren. In diesem Beitrag stellen wir die Organ-on-Chip-Technologie, an der wir am NMI Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Institut in Reutlingen und der Universität Tübingen forschen, als eine solche vielversprechende Alternative zum Tierversuch vor.
Mensch und Maus vergleichbar?
Zweifelsohne, der Aufbau des Körpers und die biochemischen Abläufe, die in einem so komplexen Lebewesen wie dem Menschen ablaufen, sind wahrlich faszinierend und alles andere als trivial. Schon bei der simplen räumlichen Gegenüberstellung einer Maus und eines Menschen drängt sich bereits bei der bloßen Betrachtung die berechtigte Vermutung auf, dass sich diese beiden Spezies vermutlich nicht nur durch ihre äußere Gestalt, ihre Größe und ihre Lebensweise unterscheiden, sondern die Unterschiede wahrscheinlich noch sehr viel tiefer gehen und womöglich selbst auf dem Level einer einzelnen Zelle als kleinster funktioneller Einheit eines Lebewesens noch feststellbar sind. Selbst der Puls einer Maus liegt bei rund 600 Schlägen pro Minute, der eines Menschen bei durchschnittlich 70. Tatsächlich liefern auch experimentelle Versuche an unterschiedlichen Versuchsorganismen nicht selten gegensätzliche Ergebnisse, wenn es beispielsweise. um die Testung von Wirkstoffen geht.
Eines der wohl bekanntesten Beispiele für diese Übertragbarkeitsproblematik ist das Kopfschmerzmittel Aspirin®. Der Wirkstoff führt u. a. in Katzen, Hunden, Affen, Mäusen, Kaninchen und Ratten zu schweren Gesundheitsschäden, während Menschen den Wirkstoff überwiegend sehr gut vertragen und Aspirin® folglich zu einem der meistverschriebenen Arzneimitteln unserer Zeit zählt. Die Frage ist also berechtigt, ob Tierversuche überhaupt noch zeitgemäß sind oder deren mitunter schlechte Übertragbarkeit womöglich dazu führt, dass hochwirksame Wirkstoffkandidaten im langen Entwicklungsprozess verloren gehen.
Eines muss jedoch vorweggenommen werden: Die tierversuchsbasierte Forschung stellt bis zum heutigen Tag eine wichtige Basis für den biomedizinischen Fortschritt in Deutschland und der ganzen Welt dar. Viele bahnbrechende und die Geschichte der Menschheit verändernde wissenschaftliche Erkenntnisse basieren auf Tierversuchen, von denen wir alle tagtäglich profitieren. Trotz der rasanten Entwicklung ist der komplette Verzicht auf Tierversuche derzeit noch nicht möglich und aktuell auch noch nicht absehbar. Dennoch wurde die Wegstrecke hin zu einer tierversuchsfreien Welt bereits um viele Kilometer verkürzt und der ersehnte Paradigmenwechsel ist erfreulicherweise bereits deutlich spürbar.
In vitro veritas
Um zukünftig auf Tierversuche verzichten zu können und um die alternativ erhobenen Labordaten möglichst einfach und direkt auf den Menschen übertragen zu können, werden schon seit geraumer Zeit verschiedenste In-vitro-Modelle (in vitro lateinisch ‚im Glas‘, d. h. außerhalb eines lebenden Organismus) und neuartige Ersatz- und Ergänzungsmethoden entwickelt. Um die direkte Übertragbarkeit zu gewährleisten, basieren viele In-vitro-Testsysteme und Ersatzmethoden zum Tierversuch auf der Verwendung von menschlichen Zellen, häufig aus Stammzellen. Darunter werden undifferenzierte Zellen eines vielzelligen Organismus wie dem Menschen verstanden, die in der Lage sind, unendlich viele weitere Zellen desselben Typs hervorzubringen. Durch Differenzierung können aus diesen Stammzellen andere organ- oder gewebespezifische Zelltypen entstehen, die über die jeweiligen Funktionen und Eigenschaften verfügen, die für das jeweilige Gewebe oder Organ charakteristisch sind. Für die biomedizinische Forschung wären embryonale Stammzellen zwar grundsätzlich am interessantesten, da sie – ganz wie bei der Entstehung eines Menschen im Mutterleib – die faszinierende Fähigkeit aufweisen, sich in alle Gewebe des Körpers entwickeln zu können, jedoch ist deren Verwendung stark reglementiert und ethisch diskutiert, da für deren Gewinnung ein menschlicher Embryo zerstört werden muss.
Induzierte pluripotente Stammzellen – die Revolution der biomedizinischen Forschung
Glücklicherweise steht seit ein paar Jahren eine neuartige Technologie zur Verfügung, mit der sogenannte „induzierte pluripotente Stammzellen (iPS)“ generiert werden können. Diese im Labor durch eine Art „künstlichen Reset“ hergestellten Stammzellen weisen durch ihre hohe Differenzierungsfähigkeit ein fast ebenso großes medizinisches Potenzial auf wie embryonale Stammzellen und haben dadurch die biomedizinische Forschung geradezu revolutioniert. Der besondere Clou: Für die Generierung solcher iPS-Zellen reicht zum Beispiel ein einzelnes Haar eines Menschen.
Organ-on-Chip-Systeme – biointelligente Miniatur-Wunderwerke
Um Krankheiten auf zellulärer Ebene verstehen oder um die Wirkung neuer Arzneimittel untersuchen zu können werden bei der Organ-on-Chip-Technologie die charakteristischen funktionellen Einheiten eines Organs außerhalb des Körpers nachgebildet. Dafür werden organ-spezifische Zellen im Labor auf engstem Raum gemeinsam kultiviert, was dazu führt, dass die Zellen miteinander interagieren und dabei komplexe, organähnliche Strukturen ausbilden. Um diesen Mini-Organen auch außerhalb des Körpers eine möglichst natürliche Mikroumgebung zu bieten, werden die Zellen in einen Polymer-Chip eingesetzt, der von winzigen Kanälen im Mikrometermaßstab durchzogen ist. So können unter anderem auch die Blutgefäße des Körpers im Chip nachgebaut werden, in denen das Nährmedium als Blutersatz fließen kann. Auf diese Weise werden die Zellen analog zum menschlichen Körper dynamisch mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt, Stoffwechselprodukte abgeführt und die Zellen fluidmechanischen Reizen ausgesetzt. Da die Chips so die natürliche, dreidimensionale Mikroumgebung der Zellen im Gewebe nachbilden, verhalten sich die enthaltenen Zellen und Gewebe ganz ähnlich, wie sie es auch im menschlichen Körper tun würden.
Multi-Organ-Chips statt Tierversuchen
Organ-on-Chip-Systeme kombinieren folglich die Alleinstellungsmerkmale klassischer Zellkultursysteme (menschliche Zellen und Gene) und der Tiermodelle (komplexe 3D-Gewebe und Blutkreislauf). Klar ist aber auch, dass ein einziger Organ-Chip nicht in der Lage ist, einen komplexen Organismus wie den einer Maus, eines Hundes oder schlussendlich des Menschen nachzubilden. Trotz ihrer individuellen Bedürfnisse ist jedes Organ im Körper auch von anderen Organen abhängig und auf die Kommunikation mit ihnen angewiesen. Die dafür nötigen Signalmoleküle werden für diesen lebenswichtigen Prozess analog zu Nährstoffen oder Sauerstoff über den Blutstrom ausgetauscht. Auf dem Weg zum vollständigen Ersatz eines Tierversuchs wird deshalb bereits an Multi-Organ-Chips gearbeitet, bei denen die jeweiligen Organ-Chips über die mikrofluidischen Kanäle miteinander verbunden werden, sodass der Austausch ermöglicht wird. Das große Ziel besteht darin, Mini-Versionen mehrerer Organe zu kombinieren, um so eine ausreichend hohe Komplexität zu erreichen, die es erlaubt, verschiedenste medizinische, biologische, pharmakologische und toxikologische Fragestellungen verlässlich und reproduzierbar beantworten zu können, ohne dabei auf kostspielige und zeitaufwendige Tierversuche zurückgreifen zu müssen.
Bis die Maus im Labor jedoch nur noch am Computer zu finden ist, gilt es noch viele Hürden zu überwinden, dennoch dürfen wir gespannt und hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.
Sie sind gespannt wie die Reise weitergeht und welche Aspekte es noch zu beachten und diskutieren gibt, dann melden Sie sich gerne zu unserer interaktiven Webinar-Reihe an. Die 20-30-minütigen Impulsvorträge der Expertinnen und Experten sollen spannende Denkanstöße für die anschließende Diskussion sein.