„Zeit ist Netzhaut“
Mit weniger als einer Person unter 100.000 ist ein Augeninfarkt ein seltenes Krankheitsbild. Den Schaden, den er anrichten kann, ist aber groß. Eine nachweislich wirksame Therapie gibt es für den medizinischen Notfall bislang noch nicht. Ein Forschungsteam des Universitätsklinikums Tübingen, Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung sowie der Universitäts-Augenklinik Hamburg-Eppendorf will das nun ändern. Gemeinsam untersuchen sie, inwieweit ein Medikament das Gerinnsel auflösen und dadurch die Zerstörung der Netzhaut aufhalten kann. Jetzt startet die Medikamentenstudie in Tübingen.
Nicht nur das Gehirn kann einen Infarkt erleiden – auch das Auge kann von einem akuten Verschluss der Blutzufuhr betroffen sein. Der Augeninfarkt zeichnet sich durch eine plötzliche, schmerzlose Sehverschlechterung innerhalb von Sekunden aus. Unbehandelt führt er in rund 95 Prozent der Fälle zu einem schweren und dauerhaften Sehverlust im betroffenen Auge. Der Grund ist ein Gerinnsel in den Blutgefäßen, welche die Netzhaut versorgen. Sind die Gefäße verstopft, ist die Sauerstoffzufuhr behindert und das Gewebe stirbt ab. Je schneller das Blut wieder ungehindert fließt, umso besser die Prognose.
Studie REVISION startet
Ein Forschungsteam um Privatdozent Dr. Sven Poli von der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen und dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung sowie Prof. Dr. Martin Spitzer von der Universitäts-Augenklinik Hamburg-Eppendorf untersucht jetzt im Rahmen der klinischen Studie REVISION, inwieweit das Medikament Alteplase das Gerinnsel auflösen und dadurch die Zerstörung der Netzhaut aufhalten kann. Trotz einer Vielzahl von verbreiteten Standardbehandlungen gibt es bislang keine nachweislich wirksame Therapie, die die Krankheitsursache behandelt – anders als beim ischämischen Schlaganfall, bei dem Alteplase mittlerweile routinemäßig und erfolgreich zur Auflösung des Blutgerinnsels eingesetzt wird. „Es ist daher ein naheliegender Therapieansatz, das gleiche Arzneimittel beim Augeninfarkt einzusetzen“, erklärt Studienleiter Poli.
Die Medikamentenstudie startet jetzt am Uniklinikum Tübingen. Rund 400 Patientinnen und Patienten sollen deutschlandweit im Rahmen der Studie behandelt werden, 23 Kliniken beteiligen sich daran. REVISION wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit vier Millionen Euro gefördert.
Notfall erkennen und schnell handeln
Ein Augeninfarkt ist selten. Umso wichtiger ist, dass ihn auch Laien und niedergelassene Medizinerinnen und Mediziner als Notfall erkennen. „Tritt eine Sehverschlechterung innerhalb von Sekunden auf und existiert ein Schatten auf dem kompletten Auge, sollte die betroffene Person unmittelbar in die nächste Augenklinik oder zentrale Notaufnahme gehen – notfalls mit dem Rettungsdienst, selbst dann, wenn der Schatten nur von kurzer Dauer ist“, appelliert Poli. Dort kann nach der Diagnose unmittelbar mit einer Behandlung begonnen werden.
Beteiligte Zentren
An der Studie beteiligte Zentren, die bis Mitte November den Projektstart initiieren, sind die Uniklinika Heidelberg, Ulm, Frankfurt, Bonn, Leipzig und die LMU München. Ab 2023 folgen die Uniklinika Hamburg-Eppendorf, Aachen, Dresden, Düsseldorf, Gießen, Göttingen, Halle, Homburg Saar, Lübeck, Münster, Regensburg, das Klinikum Ludwigshafen, die Charité Berlin, die TU München, die Augenklinik Sulzbach und das Katharinenhospital Stuttgart.