Ihre Arbeit liefert die erste funktionelle Analyse, wie langreichweitige Hemmung die Informationsverarbeitung des Neokortex prägt. Die in dieser Studie identifizierten Signale sind wahrscheinlich nicht nur für das Gedächtnis, sondern auch für eine Reihe zusätzlicher Gehirnfunktionen wie zum Beispiel für Aufmerksamkeit von entscheidender Bedeutung. Die Ergebnisse wurden soeben in der Fachzeitschrift Neuron veröffentlicht.
„Top-Down-Signale“ im Zentrum der Forschung
Das Gedächtnis ist eine der grundlegendsten Funktionen des Gehirns, die Menschen ermöglicht, aus Erfahrungen zu lernen und sich an Vergangenes zu erinnern. Darüber hinaus hat ein mechanistisches Verständnis des Gedächtnisses Implikationen, die von der Behandlung von Gedächtnis- und Angststörungen bis hin zur Entwicklung künstlicher Intelligenz und effizientem Hard- und Softwaredesign reichen können. Um Erinnerungen zu bilden, muss das Gehirn Verbindungen herstellen zwischen sensorischen „Bottom-up“-Signalen aus der Umgebung und intern generierten „Top-Down“-Signalen, die Informationen über vergangene Erfahrungen und aktuelle Ziele vermitteln. Diese Top-Down-Signale stehen im Mittelpunkt aktueller Forschung.
In den vergangenen Jahren haben Forschende begonnen, eine Reihe solcher Top-Down-Projektionssysteme zu identifizieren, die alle eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweisen: Sie signalisieren durch synaptische Erregung, dem Standardformat zum Senden von Informationen zwischen kortikalen Regionen, und sie zeigen auch ein gemeinsames Regime für die Gedächtniscodierung. Ein Reiz mit erlernter Relevanz ruft in diesen Systemen eine stärkere Antwort hervor, was darauf hindeutet, dass diese positive Potenzierung ein Teil des Puzzles darstellt, das die Gedächtnisspur ist.
Einfluss auf die Funktion von Netzwerken
„Im Gegensatz zu diesen Systemen sind langreichweitige Hemmungswege im Kortex viel schwächer und weniger zahlreich, aber es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass sie dennoch überraschend robuste Auswirkungen auf die Funktion und das Verhalten von Netzwerken haben können“, sagt Letzkus, Professor am Physiologischen Institut der Universität Freiburg und ehemaliger Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Hirnforschung. „Wir wollten herausfinden, ob solche Eingänge im Neokortex vorhanden sind und wenn ja, ob und wie sie auf einzigartige Weise zum Gedächtnis beitragen könnten.“
Dr. Anna Schroeder, Erstautorin der Studie und Postdoktorandin in Letzkus’ Labor, konzentrierte sich zur Beantwortung dieser Frage auf einen überwiegend hemmenden subthalamischen Kern, die Zona Incerta. Während die Funktion dieser Gehirnregion so mysteriös bleibt, wie der Name vermuten lässt, deuteten die vorläufigen Ergebnisse darauf hin, dass die Zona Incerta hemmende Projektionen sendet, die selektiv Regionen des Neocortex innervieren, die bekanntermaßen für das Lernen wichtig sind. Um die Plastizität in diesem System über alle Lernphasen hinweg zu untersuchen, implementierte Schroeder einen innovativen Ansatz, der es ihr ermöglichte, die Aktivität einzelner Zona-Incerta-Synapsen im Neokortex vor, während und nach einem Lernparadigma zu verfolgen.
Umverteilung innerhalb des Systems beim Lernen
„Die Ergebnisse waren beeindruckend“, sagt sie. „Während etwa die Hälfte der Synapsen beim Lernen stärkere positive Antworten entwickelte, tat die andere Hälfte genau das Gegenteil. Was wir beobachteten, war also eine vollständige Umverteilung der Hemmung innerhalb des Systems aufgrund des Lernens.“ Dies deutet darauf hin, dass Zona-Incerta-Synapsen frühere Erfahrungen auf einzigartige, bidirektionale Weise kodieren. Das wurde besonders deutlich, als die Wissenschaftler*innen das Ausmaß der Plastizität mit der Stärke des erworbenen Gedächtnisses verglichen. Sie fanden eine positive Korrelation, die zeigt, dass Zona-Incerta-Projektionen die erlernte Relevanz sensorischer Reize kodieren.
In separaten Experimenten entdeckte Schroeder, dass das Abschalten dieser Projektionen während der Lernphase die spätere Gedächtnisspur beeinträchtigt. Das deutet darauf hin, dass die in diesen Projektionen auftretende bidirektionale Plastizität für das Lernen notwendig ist. Sie fand auch heraus, dass diese hemmenden Projektionen vorzugsweise funktionelle Verbindungen mit anderen, lokal-hemmenden Neuronen im Neokortex bilden, wodurch im Endeffekt ein langreichweitiger enthemmender Kreislauf entsteht. „Diese Konnektivität impliziert, dass eine Aktivierung der Zona Incerta zu einer Nettoerregung neokortikaler Schaltkreise führen sollte“, erklärt Schroeder. „Die Umverteilung der Hemmung, die wir beim Lernen beobachten, zeigt jedoch, dass dieser Weg wahrscheinlich noch weitreichendere Konsequenzen für die neokortikale Verarbeitung hat.“
Veränderungen der Reizrepräsentation
Ein besonderes Interesse der Forschenden richtete sich auf die Population von Zona-Incerta-Synapsen, die eine negative Potenzierung zeigten, weil diese Art von Plastizität in den zuvor untersuchten Top-Down-Erregungswegen bis jetzt nicht beobachtet wurde. Computeransätze lieferten wertvolle Erkenntnisse darüber, wie sich diese einzigartigen Antworten entwickeln: Weitere Analysen in Zusammenarbeit mit dem Labor von Prof. Dr. Henning Sprekeler und seinem Team an der Technischen Universität Berlin ergaben, dass die negativen Antworten bemerkenswerterweise der Haupttreiber für die Veränderungen der Reizrepräsentation sind, die während des Lernvorgangs auftreten.
Darüber hinaus gehört die Zona Incerta zu den sehr wenigen Hirnregionen, die standardmäßig für die tiefe Hirnstimulation bei menschlichen Parkinson-Patienten angesteuert werden, was für die Zukunft eine faszinierende Möglichkeit für translationale Arbeiten eröffnet. „Letztlich wird diese Studie hoffentlich auch weitere Forscher dazu inspirieren, die Rolle der langreichweitigen Hemmung bei der Regulierung der neokortikalen Funktion sowohl aus der Zona Incerta als auch aus zusätzlichen, noch zu identifizierenden Quellen zu erforschen“, sagt Letzkus.