Zweiter Stammzelltyp im Mäusehirn entdeckt
Im Gehirn von erwachsenen Säugetieren sorgen neurale Stammzellen dafür, dass kontinuierlich neue Nervenzellen, also Neuronen, gebildet werden. Dieser als adulte Neurogenese bezeichnete Vorgang trägt bei Mäusen dazu bei, den Geruchssinn der Tiere zu erhalten. Ein Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Francesca Ciccolini vom Interdisziplinären Zentrum für Neurowissenschaften (IZN) der Universität Heidelberg hat nun eine zweite Stammzellpopulation im Mäusehirn entdeckt. Nicht der bisher bekannte, sondern der neue Typ von Stammzellen ist maßgeblich an der Produktion von neuen Nervenzellen im Riechkolben adulter Mäuse beteiligt.
Wissenschaftliche Untersuchungen zur Neurogenese haben sich bislang auf die sogenannten apikalen Stammzellen konzentriert. „Lange wurden sie für die einzige im adulten Mäusehirn vorkommende Stammzellpopulation gehalten und auch als Haupttreiber für die Bildung von Nervenzellen angesehen“, erklärt Dr. Ciccolini. Diese neuralen Stammzellen sind in der subventrikularen Zone nahe der seitlichen Hirnkammer angesiedelt. Bisher wurde angenommen, dass sie Vorläuferzellen bilden, die sich anschließend im Riechkolben der Mäuse zu Zwischenneuronen ausdifferenzieren – also zu Nervenzellen, die die Reizweitergabe zweier verschalteter Neuronen modulieren. Die Hypothese, dass es nur einen Stammzelltyp gibt und dieser für die Neurogenese verantwortlich ist, konnten die Heidelberger Wissenschaftler nun widerlegen.
Ursprünglich wollten die Forscherinnen und Forscher in der Abteilung für Neurobiologie herausfinden, wie sich diese vermeintlich alleinige Stammzellpopulation im Mäusehirn in unterschiedlichen Situationen verhält. Hierfür nutzten sie genetisch veränderte Tiere, deren neurale Stammzellen mithilfe eines im Zellkern wirkenden Farbstoffes grün eingefärbt wurden. Überraschend war für die Neurobiologen, dass die meisten grün leuchtenden Zellen nicht dieselben Merkmale aufwiesen wie die bereits bekannten apikalen Stammzellen. „Zunächst dachten wir, dass es sich um Astrozyten handeln könnte, also Helferzellen, die dafür sorgen, dass die Neuronen ihre Arbeit machen können. Nachdem wir verschiedene Funktionsanalysen durchgeführt hatten, wurde uns jedoch schnell klar, dass es sich um eine separate Stammzellpopulation handeln musste“, betont Dr. Ciccolini.
Die weiteren Untersuchungen ergaben, dass sich der neu entdeckte Stammzelltyp sowohl in seiner Morphologie als auch in seiner Funktion von der bekannten Population unterscheidet. Die Zellen dieses Typs haben keinen Kontakt zur seitlichen Hirnkammer und werden deshalb als basal bezeichnet. Die basalen – und nicht wie bislang angenommen die apikalen – Stammzellen sind für die Entstehung von Neuronen im Riechkolben verantwortlich, wie die Wissenschaftler festgestellt haben. Den Nachweis erbrachten sie, indem sie die beiden Zellpopulationen separat voneinander markierten und beobachteten, ob anschließend entsprechend markierte Nervenzellen im Riechkolben auftraten. „Das war nur der Fall, wenn zuvor die basale Population gekennzeichnet worden war“, so Francesca Ciccolini. Wurden ausschließlich apikale Stammzellen markiert, waren im Riechkolben keine neuen markierten Neuronen zu sehen.
Darüber hinaus fanden die Heidelberger Wissenschaftler heraus, dass die beiden Stammzelltypen und Vorläuferzellen im Mäusehirn über sogenannte Notch-Interaktionen miteinander in Verbindung stehen. Dabei spielt der gleichnamige Rezeptor eine entscheidende Rolle. Er kontrolliert, mit welcher Geschwindigkeit sich Zellen vermehren und überwacht den Prozess der Zelldifferenzierung. „Über die Notch-Aktivität entscheidet sich gewissermaßen, ob eine Stammzelle eine Stammzelle bleibt oder sich in eine Nervenzelle weiterentwickelt“, erläutert Katja Baur, Doktorandin in der Arbeitsgruppe von Francesca Ciccolini. „Wir vermuten, dass die apikalen Stammzellen in die Aktivierung des Notch-Signalwegs eingreifen und die Stammzellvermehrung und Neurogenese hemmen können“, so die Nachwuchswissenschaftlerin. Das beugt unter anderem der Erschöpfung des Stammzellreservoirs vor.
„Unsere Entdeckung, dass im Mäusehirn adulter Tiere zu den bekannten neuralen Stammzellen ein weiterer Stammzelltyp existiert, wirft ein neues Licht auf die Prozesse bei der Bildung von Neuronen“, betont Dr. Ciccolini. Ähnliche Stammzellen sind auch im menschlichen Gehirn vorhanden, wo sie an der Entstehung von Hirntumoren beteiligt sind. Die Heidelberger Wissenschaftler erhoffen sich von ihren Forschungsarbeiten daher auch neue Erkenntnisse zur Entstehung und möglichen Behandlung solcher Tumore.
Die Ergebnisse der aktuellen Heidelberger Grundlagenforschung zur Entstehung von Neuronen im Mäusehirn wurden in der Fachzeitschrift „EMBO Reports“ veröffentlicht.